002
drama (1969)
für 12 solostimmen
ua: weimar 05.04.2018, berlin 01.05.2018
phønix16, leitung: timo kreuser
dauer: 9'30
eigenverlag
die objektivierung von individuellen konflikten und des konfliktes zwischen individuum und gesellschaft ist die funktion des chors im antiken drama und das thema dieses stückes.
I.
sukzessive einsetzende geräusche, die einander so ähnlich sind, dass sie sich konfliktlos zum gesamteindruck verbinden, werden durch einen quasi akkordischen einsatz zur betonung ihrer individualität (akzentuierung durch geflüsterte vokale und erste stimmhafte laute) provoziert. die gruppe versucht, ihre auflösung in unbestimmte tonhöhen (gesprochene silben) aufzufangen, indem sie selber zu tonhöhen übergeht und sich in klängen zusammenschließt. die destruktive tendenz erweitert ihre mittel durch deutliches konturen-sprechen und -singen (kurze glissandi), schließlich wird aber das glissando zur neuen gruppen-norm, zum fluktuierenden klang, der für momente im cluster verharrt, um dann in glissando-gruppen auseinanderzubrechen.
gegen das "alte", bisher herrschende prinzip der gruppenbildung (einzelgeräusche bzw. töne schließen sich zu klängen zusammen) und gegen asynchrone störelemente setzt sich das neue gruppenbildende prinzip (synchronismus) mit hilfe der acceleration zur wehr; destruktive tendenzen finden sich auch in der gruppe selber: gruppensynchrone, aber nicht gruppenidentische töne und geräusche. die zwanghaft forcierte bindung schlägt, wo beschleunigung synchron nicht mehr möglich ist, in ihr gegenteil um; in absoluten individualismus. dieser zerstört sich aus eigener kraft. seufzen und hörbares einatmen, ihrer herkunft nach asynchron und äußerungen von individuen, stehen ironisch für identität von individuum und gruppe.
II.
im zweiten teil erscheint das gruppenbildende prinzip des ersten (einzeltöne bilden klänge) negativ: individualität hat ihre destruktive und damit institutionenbildende kraft eingebüßt, wird fortschreitend nivelliert: vom klang zum cluster, vom cluster zum geräusch, das sich aus unidentifizierbaren einzelaktionen zusammensetzt, bis hinab zu akustischen ereignissen, die gruppen hervorbringen, deren individuen auf äußere sensationen reagieren, ohne auf ihr verhältnis zueinander zu reflektieren.
007
sotto voce (1973/74)
für vokalisten
dauer: 5'-10'
ua: stuttgart 1974
eigenverlag
015
el sonido silencioso
trauermusik für salvador allende (1973/80)
für sieben frauenstimmen
dauer: 30'
ua: stuttgart 1980
breitkopf & härtel
die kompositorische verfahrensidee dieses stückes ist am ehesten anschaulich zu machen durch die vorstellung einer bildnerischen technik: immer und immer wieder übermaltes, in das die eigentliche zeichnung eingeritzt wurde. diese zeichnung ist ebensowohl motiviert durch das, was sie an der oberfläche fragmentiert und aus tieferen schichten zutagefördert, wie sie auch dort noch, wo sie ihrer eigengesetzlichkeit folgt, in ihrer erscheinungsweise durch das überformte und entdeckte bestimmt bleibt, ohne dass dieses je zusammenhängend kenntlich würde. als sozusagen verhüllte embleme fungieren lieder der chilenischen, deutschen und internationalen arbeiterbewegung, nur "el pueblo unido jamás será vencido" wird erkennbar zitiert und verarbeitet.
die tiefste und die zeitgestalt, den verharrenden, ungerichteten charakter tragende schicht, sozusagen den malgrund, bildet eine elegie-strophe aus acht distichen (hexameter und pentameter im wechsel), über die gesamtdauer des stückes gedehnt (jede silbe ist durch fünf viertel repräsentiert), welche durch hebungen und senkungen die dichte, vor allem aber durch die fehlende senkung zwischen der dritten und vierten hebung der pentametrischen zeile, die generalpausen reguliert.
die textgrundlage bilden: eine collage aus gedichten pablo nerudas in originalsprache und deutscher übersetzung, insbesondere aus "españa en el corazón" und "canto general", des weiteren zeitungsmeldungen, dokumentationen, augenzeugenberichte, ein zusammenfassender bericht von radio santiago vom 11.9.73, dem tag an dem der demokratisch gewählte präsident chiles, salvador allende, ermordet wurde und, unter der parole "operación silencio", die noch immer regierende militärjunta unter general pinochet mit gewalt die macht an sich riss - und ein liste mit den namen derer, die in den ersten tagen nach dem putsch verfolgt, verhaftet, eingekerkert, gefoltert und ermordet wurden.
022
signale (1983)
chorszenen ohne gesang
dauer: 7'30
ua: berlin 1983
manuskript
musik, sofern sie nicht nur durch einen text, sondern durch die art und weise, wie sie gemacht ist, als politische verstanden werden will, sieht sich vor dem problem, daß stilmerkmale gebunden sind an ganz bestimmte gesellschaftliche gruppen und deren musikalische erfahrungen. nur wer mit der von vereinnahmung durch den kommerz bedrohten rock-musik vertraut ist, versteht die protest-funktion des punk; nur vor dem hintergrund eines in die unverbindlichkeit abgerutschten cool-jazz realisiert sich der enge zusammenhang zwischen free-jazz und black-power; nur wer die bürgerliche avantgarde kennt (das ist die ecke, aus der ich komme) wird in ihr die vertreter einer politischen ästhetik heraushören.
mit fremder (musikalischer) sozialisation läßt sich schwer erkennen, ob musik (für ein emotional-rational nachvollziehendes denken) gesellschaftliche erfahrung reflektiert und ausspricht oder ob sie als ideologischer zement und identitätsverstärker die flucht in die (mitunter auch militanten) idyllen antritt, in eine öffentlich veranstaltete innerlichkeit, die, als unschönes analogon zur produktionsweise, privatheit und gesellschaftlichkeit miteinander vertauscht.
mit einem kraftakt einzelner, mit dem hoffnungslosen versuch, einen allgemeinverständlichen stil zu synthetisieren, ist das verstehensproblem nicht zu lösen; mein erster gedanke war darum, es zu umgehen und zugleich im stück selber zu thematisieren durch eine ausschließliche verwendung von klängen und geräuschen, die der alltagserfahrung angehören, die von automatisierten verrichtungen zeugen, die signale von regelhaftigkeit und ordnung sind und allgemein bekannte bedeutungen haben, die reaktionen hervorrufen, die in die nähe des bedingten reflexes gehören, die uns vor ohren führen, daß herrschaft danach strebt, lebendige kommunikation, die reproduzierend zugleich verändert, neu definiert, wider-spricht, auf die einbahnstraßenform des befehls reduzieren, der nicht zu verstehen ist, sondern auszuführen.
konkrete klänge, öffentliche geräusche, musikalische zitate wollte ich so zueinander und zu theatralischen, pantomimischen und hörspiel-elementen in beziehung setzen, daß dargestelltes und darstellungsweise die aufmerksamkeit auf die wahrnehmung richten, die durch die zusammenhänge gesteuert ist, denen die herbeizitierten signale entnommen sind. ein hauptvergnügen bei der arbeit war mir, daß für die bühne nach musikalischen kriterien komponierte arbeitsabläufe den umkehrschluß nahelegen, daß in musikalischen sinnzusammenhängen die von der produktionsweise geprägten ordnungsvorstellungen sich wiederfinden, weshalb sogar eine reine instrumentalmusik möglich sein muß, die auf ihre gesellschaftlichen bedingungen verweist. - mit gutem grund kommt in der musik, die uns alltäglich überschwemmt, unsere alltagserfahrung nicht vor; dadurch übt sie ein, überm alltäglichen kram und den entlastungen von ihm die nachrichten von globalen katastrophen zu hören, ohne sie wahrzunehmen.
musik, die sich auf die verhältnisse einlassen möchte, unter denen sie entsteht, ein "unreines" künstlerisches konzept, ist wohl nicht zu realisieren durch "exklusive konzentration des künstlerischen talents", sondern nur, wo sich (wie beim hanns-eisler-chor) musikalische und politische ambition zusammenfinden zu einem schönen vorgriff auf verhältnisse, in denen "menschen unter anderem auch" musik machen.
024
verfluchung (1983/85)
für drei vokalisten mit holzschlaginstrumenten
dauer: 30'
ua: basel, 1989
breitkopf & härtel
"diese abgestumpftheit ist es, die wir zu bekämpfen haben, ihr äußerster grad ist der tod. allzuviele kommen uns schon heute vor wie tote, wie leute, die schon hinter sich haben, was sie vor sich haben, so wenig tun sie dagegen. und doch wird mich nichts davon überzeugen, daß es aussichtslos ist, der vernunft gegen ihre feinde beizustehen. laßt uns das tausendmal gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde! laßt uns die warnungen erneuern, und wenn sie schon wie asche in unserem mund sind! denn der menschheit drohen kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige versuche sind, und sie werden kommen ohne jeden zweifel, wenn denen, die sie in aller öffentlichkeit vorbereiten, nicht die hände zerschlagen werden."
bertolt brecht
mit diesem stück wollte ich der aufforderung brechts folgen: das tausendmal gesagte, das zitat "verflucht sei krieg, verflucht das werk der waffen" aus "fluch des krieges" des chinesischen dichters li tai-pe (701-762) wird immer wieder gesagt, ganz oder in ausschnitten verschiedener länge.
das kompositorische verfahren, nach dem ich hierfür suchte, mußte mehrere bedingungen erfüllen: repetitive vorgänge sollten virtuell endlos wirken, also scheinbar oder tatsächlich nur aus pragmatischen aufführungsgründen anfang und ende haben; sie durften darum nicht teleologisch oder finalistisch sein (etwa wie vordersatz und nachsatz auf einen ganzschluß zielen oder gerichtete entwicklungen vom typus des übergangs darstellen). so schlossen sich auch anlehnungen an herkömmliche syntaxen aus, in denen reihenfolge (begrenzte vertauschbarkeit) von satzgliedern und verschiedenartigkeit von zäsuren sinntragend sind, also einzelheiten nicht beliebig wiederholt werden können, unvermittelte schnitte als von außen, als fragmentierung eines ganzen mit auf dieses bezogenen teilen verstanden werden. unnachgiebiges, unbeirrbares wiederholen sollte womöglich den evokativen charakter eines beschwörungsrituals annehmen, verlangte aber, um dem mißverständnis einer affinität zum gegenaufklärerischen vorzubeugen, nach einer rigorosen rationalen regelhaftigkeit; nicht aber, um eine höhere harmonie von expression und ratio auszupinseln, sondern um den widerspruch beider gegeneinander erfahrbar zu machen und festzuhalten; der vernunftlose verstand, der waffen des irrsinns hervorbringt, ist durch die schreie der leidenden widerlegt - und dennoch in der welt.
als ordnungsprinzip boten sich primzahlen an. für sie läßt sich weder ein analytischer ausdruck noch ein rekursivgesetz angeben, d. h. zwischen teilen mit größen von primzahlen wiederholt sich keine proportion jemals; anders als etwa die fibonacci-zahlen haben sie keine analogie in der natur; ihre folge ist extrem unausgewogen; gestaltwahrnehmung und intuition versagen davor, aus gegebenen primzahlen auf die nächste schließen zu sollen - für sie kommt diese immer überraschend oder ihre richtigen vermutungen sind nicht signifikant; ist die länge von teilen durch primzahlen geregelt, sind auch die kategorien verschieden/ähnlich/gleich verunsichert (deren uneindeutige zwischenbereiche von der gestaltdarstellung gemieden werden), zumal die primzahlenzwillinge (primzahlen mit der differenz 2, die vermutlich, der beweis steht noch aus, genauso unendlich sind, wie die primzahlen selbst) mit ihrem größerwerden diese kategorien durchlaufen, d. h. für die wahrnehmung immer ununterscheidbarer werden.
verfluchung besteht aus den teilen 15 bis 2 in rückläufiger anordnung und 18 bis 61. teil 1 kommt nicht vor (1 rechnet nicht zu den primzahlen), teil 2 besteht aus 2, 3 aus 3, 4 aus 5, teil 5 aus 7 achtelnoten und so fort, teil 61 (primzahl) aus 281 achtelnoten. sind die ordnungszahlen der teile primzahlen, so wird dies musikalisch besonders markiert, ebenso, wenn die summe der primzahlen bisheriger teile ebenfalls eine primzahl ist. dies ist der fall bei teil 3, 5, 7, 13 und 15 (der ersten nicht-primzahl und dem umkehrpunkt für die nun größer werdenden teile): 281 achtelnoten; und erst wieder bei teil 61, der 281 achtel lang ist (wie die teile 15 bis 2): summe aller achtelnoten ist die primzahl 7392. ein vergleichbar auffälliges zusammentreffen wiederholt sich nicht in absehbarer größenordnung (erst die ordnungszahl 97 und die gesamtsumme 22039 wären beide primzahlen gewesen, allerdings ohne etwas der in verschiedenen ordnungskategorien übereinstimmenden 281 entsprechendes). so fiel meine wahl auf diese gesamtdauer. bei tempo = 240-260 MM sind das ca. 32 minuten.
die kombination der ordnungszahlen der teile mit der zählung der achtelnoten insgesamt und in den teilen bestimmt das geschehen. eine ordnung unter dem gesichtspunkt zunehmender zusammengesetztheit wurde erstellt aus materialien, die in ihrer jeweiligen kategorie primär wirken: schlag, atem, stimme, wort, satz etc.; die ordnungszahl eines teils und deren zerlegung in primfaktoren bestimmt die vorkommenden primärmaterialien und deren zusammensetzung. das rhythmische geschehen wird durch die überlagerung der teil- und der gesamtzählung geregelt. fällt das ende eines teils mit einer primzahl der gesamtzählung zusammen, so ist nur der puls zu hören, höchstens werden die primzahlen beider zählungen, von anfang bis teil 2 auch die rückwärtszählung, akzentuiert. alle anderen teile reichen zunächst bis zur letzten primzahl der gesamtzählung, die sich in ihnen findet, die zerlegung der so gewonnen zahl in primfaktoren bringt die taktarten und das rhythmische geschehen hervor. der verbleibende rest wird mit frusta-schlägen ausgezählt. so schien sich mir der eindruck von willkürlichen ausschnitten aus eigentlich endlosem und der abrupte, unveranlaßte, unvorhersehbare wechsel zwischen allen graden der komplexität am ehesten herstellen zu lassen.
025
in dem ganzen ocean von empfindungen eine welle absondern, sie anhalten (1985)
für chorgruppen und playback
dauer: 20'
ua: stuttgart 1987
eigenverlag
nachrichten gehen durch die medien, von denen man glaubt, sie müssten geeignet sein, über alle mächtigen interessen hinweg, wo immer sie von menschen vernommen werden, empörung hervorzurufen und die welt zu verändern. wir wissen, was wir tun. wir sind informiert: die reichen werden reicher, die armen werden ärmer. wir verschwenden 7/8 der gebrauchswerte, die übrigen zwei drittel der menschen müssen mit dem restlichen 1/8 leben oder sterben; dabei sind sie es doch, die mehr als die hälfte aller rohstoffe erzeugen. preisdiktat durch die mächtigen, kaufkraftverlust bei den ärmsten, ungleicher tausch, größere gewinnentnahmen als investitionen durch konzerne, deren umsätze höher sind als das bruttosozialprodukt vieler entwicklungsländer. alle 2 sekunden verhungert ein mensch. es könnten 30mal soviele ernährt werden, würde nicht landwirtschaftliche nutzfläche zum anbau von viehfutter für die industrienationen verwendet.*) wir gedankenlos schuldigen oder wir, die wir den schuldigen nicht in den arm fallen, wir bewohner der ersten und besten aller möglichen welten servieren uns die folgen unseres überflusses und unserer übervorteilungsschläue im frühstücksfernsehen - und bleiben bei appetit. niemand kann sagen, er hätte nichts gewusst. nie waren täter und tatenlose wissender - und unansprechbarer.
die kunst scheint angesichts des unsäglichen einzig die wahl zu haben zwischen zynisch indolenten glasperlenspielen oder läppisch-verletzlicher selbstbespiegelung und, wo sie politische ambitionen hat, dem risiko zum monströsen kitsch: denn nicht nur das zu schöne ist dessen signatur, auch das zu hässliche, zu entsetzliche greift vor auf das, was die hilflos unter ihrem gegenstand bleibende kunst erst leisten soll und was dieser ungestaltet nicht vermag: die vermittlung von erfahrung. die wahl des einzig der bemühung werten, zu gewaltigen themas, erweist sich als hybris: selbstüberhebung des künstlers, der sich ihm gewachsen wähnt, seine mittel für adäquat hält.
allenfalls der kunstgriff scheint möglich, das kunstfremde, das der kunst heteronome, die fotografierte oder verlesene nachricht etwa (als spräche wirklichkeit für sich selber), dem artifiziellen zu konfrontieren, in der hoffnung, aus der darstellung des nicht-heranreichens, der unfähigkeit zum ausdruck erwachse ausdruck, darstellung des verhältnisses von ausdrucksfähigkeit, von (gesellschaftlich möglicher) kunst, zum (notwendigen) sujet.
im unterschied zur alltagssprache, die auch werkzeug ist und, um die handlungsfähigkeit der sprechenden zu erhalten, den fließenden vereinbarungscharakter ihrer bedeutungen ausblenden muss, spricht kunst, autoreflexiv, von sich, von ihrem stil, der art und weise ihrer darstellung. durch dieses scheinbar unernste verhältnis zu ihrem gegenstand (der sich als vom stil untrennbarer erweist) ist unversehens die art und weise des informiert werdens thematisiert, die selbst ein politikum ist. der fotograf ist nie auf dem bild. die virtuelle subjektlosigkeit der objektivistischen medien suggeriert, objektivität sei, was nach eliminierung des subjekts übrig bliebe. analog zur mechanischen produktion von gebrauchsgütern, deren nicht-individuelle exemplare kein eigendasein haben, durch keines menschen bewusstsein und gestaltungsvermögen mehr gegangen sind, schwebt der bewusstlosen abbildlichkeit das ideal einer ähnlichkeit zum verwechseln, einer gedoppelten wirklichkeit vor; solche darstellung, die keine mehr sein will, gibt das verhältnis von einzelheiten zueinander, zum ganzen des bildes und weltbildes wie zum medium der mitteilung nicht durchs subjekt hindurch wieder, sondern, als wäre dies möglich, 1 : 1, um den preis der retusche des verhältnisses zur wirklichkeit, mithin von wirklichkeit selber. solche bilder, die doch bilder von menschen von menschen für menschen sind, geraten zu "deutungslosen zeichen", werden "schmerzlos" kaum unterschieden von unterhaltungsgewalt, haben "die sprache verloren."**) mit dem siegeszug der objektivistischen, in wahrheit illusionistischen medien muss kunst die frage thematisieren, wie sich darstellung zu ihrem gegenstand, zu ihrer abbildung und zur abbildung ihres gegenstands verhalten soll, um wirklichkeit sichtbar zu machen; sie muss die aufmerksamkeit auf die veränderungen unserer aufmerksamkeit richten, die mit den technischen weltbildern einhergehen, sie muss zu bewusstsein bringen, dass die vernachlässigbare differenz zwischen dem gegenstand der wahrnehmung und dessen perfekter reproduktion der unterschied ums ganze ist, will sie nicht unter dem bleiben, was herder***) als die bedingung der möglichkeit von reflexion und sprache erkannt hat: "der mensch beweist reflexion, wenn die kraft seiner seele so frei wirkt, dass sie in dem ganzen ocean von empfindungen, der sie durch alle sinne durchrauscht, eine welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die aufmerksamkeit auf sie richten und sich bewusst sein kann, dass sie aufmerke."
*) rudolf h. strahm, überentwicklung - unterentwicklung, burckhardthaus - laetare asir datta, welthandel und welthunger, dtv
asit datta, ursachen der unterentwicklung, beck
susan george, wie die anderen sterben, rotbuch
susan george, warum die hungernden die satten ernähren
peter krieg, der mensch stirbt nicht am brot allein, zweitausend
paul harrison, hunger und armut, rororo aktuell
brigitte erler, tödliche hilfe, dreisam
opitz (hg.), die dritte welt in der krise, beck
steinweg (red.), hilfe + handel = frieden?, edition suhrkamp
bügner/kemptner, tee, lamuv
**) hölderlin, mnemosyne, kohlhammer, roter stern
***) herder, sprachphilosophische schriften, meiner
035
Über den frühen Tod Fräuleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden (1995)
für 5 männerstimmen und 5 posaunen, 3 frauenstimmen, oboe, klarinette und trompete
dauer: 14'30
ua: stuttgart 1995
peermusic
georg rudolf weckherlin (1584-1653)
Vber den frühen tod Fräwleins Anna Augusta Marggräfin zu Baden
DEin leben
dessen end vns plaget
War wie ein tag schön und nit lang
Ein stern vor des morgens aufgang
Die Röhtin wehrend weil es taget
Ein seufz auß einer edlen brust
Ein klag aus lieb nicht aus vnlust
Ein nebel den die sonn verjaget.
Ein staub der mit dem wind entstehet
Ein Daw in des Sommers anbruch
Ein luft mit lieblichem geruch
Ein schnee der frühlingszeit abgehet
Ein blum die frisch vnd welck zugleich
Ein regenbog von farben reich
Ein zweig welchen der wind vmbwehet.
Ein schaur in Sommers-zeit vergossen
Ein eiß an haissem Sonnenschein
Ein glaß also brüchig als rein
Ein wasser über nacht verflossen
Ein plitz zumahl geschwind und hell
Ein strahl schiessend herab gar schnell
Ein gelächter mit laid beschlossen.
Ein stim die lieblich dahin fähret
Ein widerhall der stim in eyl
Ein zeit vertriben mit kurtzweil
Ein traum der mit dem schlaf aufhöret
Ein flug des vogels mit begihr
Ein schat wan die Sonn stricht herfür
Ein rauch welchen der wind zustöret.
Also dein leben (schnell verflogen)
Hat sich nicht anderst dan ein Tag
Stern, morgenröht, seufz, nebel, klag,
Staub, daw, luft, schnee, blum, regenbogen,
Zweig, schaur, eiß, glaß, plitz, wasserfall,
Strahl, gelächter, stim, widerhall,
Zeit, traum, flug
Schat vnd rauch verzogen.