001
fünf sätze für zwei klaviere (1969)
(5 movements for two pianos)
duration: 7'
premiere: darmstadt 1970
peermusic
the five pieces for two pianos (1969), premiered in 1970 in darmstadt, constitute the first entry in mathias spahlinger’s work catalog. they are a collection of aphorisms, vignettes of pianistic color, at times static, at other times fanning out into rhythmicized chord patterns. the pieces provide a glimpse of spahlinger’s early interest in individuation of "fulfilled moments" and micro-dramas, which comes to fruition in the slightly later 128 erfüllte augenblicke for voice, clarinet, and violoncello, but continues to reappear throughout his creative output.
philipp blume
005
phonophobie (1972)
for wind quintet
duration: 9'
premiere: stuttgart 1972
peermusic
phonophobie sucht die subjektive erfahrung der 'furcht, positiv zu werden' (hölderlin) als ein objektives zu begreifen: als schmerzlos-sprachlose lähmung zwischen 'reiner negation' (hegel), die ihren gegenstand nicht berührt und darum unmittelbar in positivität umschlägt, und der bestimmten, die, wenn nicht 'absichtslosigkeit' durchgehalten wird, wenn sie sich 'wie leckermäuler auf die neuen aussichten stürzt' (liebrucks), 'positivität präsupponiert' (adorno). solches komponieren kann nicht länger - als instrumentelle vernunft - über seinen gegenstand, funktionalisiert zum material in einem wie immer gearteten system verfügen; es liefert nicht das resultat unmittelbar, sondern zugleich die 'bedingungen und widerstände' (lachenmann), und zwar die mechanischen der klangerzeugung ebenso, wie die des komponierens selber: reflexion der bedingungen des denkens unter ebendiesen bedingungen verlangt, ohne apodiktik auszukommen. das mag uns, solange wir von macht fasziniert sein möchten, zum lachen reizen.
010
vier stücke (1975)
(four pieces)
for voice, clarinet, violin, violoncello and piano
duration: 4'
premiere: stuttgart 1975
peermusic
die vorstellung, das musikalische detail sei überzeugend formuliert, wenn es im sinnzusammenhang, im "ganzen" (hegel) der form sich erfülle, ist noch als negative ein stück schlecht verstandener idealistischer philosophie: das einzelne käme als befreites nur ganz zu sich selber und in freie kommunikation mit den anderen einzelnen, wenn form lose gefügt sei oder erst aus freien beziehungen der einzelnen untereinander erwüchse; keinesfalls jedoch dürfe sie vor oder neben den details als eigener inhalt von erfindung gesetzt sein. die (politische) implikation solchen denkens: der wahn der identität des einzelnen mit sich selber.
den bruch zwischen musikalischem material "ansich" (d. h. seiner bedeutung für einen ganz bestimmten musikalischen sprachraum) und seiner innerhalb eines werkzusammenhangs definierten funktion habe ich in den "vier stücken" nachzeichnen wollen; er ist zugleich die nicht-identität von einzelheit und ganzem und die sichselbstungleichheit der details selber.
jedes der vier stücke folgt dem gleichen rigiden konzept einer gradlinigen tendenz, der alle parameter unterworfen sind (z. b. crescendo, verdichtung, dauernzunahme, etc.); verschieden sind, von stück zu stück, die kombination der parametertendenzen und, von parameter zu parameter, die tendenzstärke, die streuung um die tendenzlinie ("durch die gegensätze hindurch") die tatsächliche mittlere größe und die tatsächlichen extremen größen.
dieses konzept soll einen erkennbaren äußeren zusammenhang konstituieren, ohne in die ideologie des "werkganzen" zurückzufallen, soll die beziehungen der details zur totale und untereinander als immer auch bloß äußerliche transparent machen.
012
128 erfüllte augenblicke
systematisch geordnet, variabel zu spielen (1976)
(128 fulfilled moments
systematically arranged, to be played variably)
for voice, clarinet and violoncello
duration: variable (max. 30')
premiere: stuttgart 1976
breitkopf & härtel
der stein der weisen eignet sich vorzüglich als wurfgeschoss.
alles formulierte/komponierte enthält einen wahrheitsanspruch, der zur verabsolutierung tendiert; er sollte dadurch zurückgenommen werden, dass auf die bedingungen der formulierung der wahrheit zurückverwiesen wird. diese "metawahrheit" entgeht aber nicht der widerlegbarkeit; sie ist kein trick, sich aus der aufhebbarkeit herauszumogeln. nur: sie lädt, weil sie versucht, nichts apodiktisch vorzutragen, zur widerlegung ein.
alles denken dient in seiner unmittelbarkeit (als standpunkt) der erhaltung seiner selbst und dessen, der es denkt.
die unmittelbare selbsterhaltung hat selbstmord-charakter.
musik, zusammen mit ihrem werden.
form "ohne eigenschaften" (musil): in der fülle der möglichen beziehungen zerfällt die kontinuität der zeit in augenblicke, der zwang der ereignisse wird suspekt.
aber nicht gemeint ist die allgemeine, bedeutungslose freiheit (die "furie des verschwindens" [hegel]), die sich (wie cage) mit abstrakter notwendigkeit in den zufall stürzt. wo die unmittelbarkeit der erfahrung gegen systemgebundenes denken ausgespielt wird, in der meinung, "von der sache selbst" zu reden, folgt die erfahrung einem ihr nicht bewussten system der selektiven wahrnehmung, aus dem sie das gefühl der unmittelbaren evidenz, der identität von sache und begriff, ihre sinnliche gewissheit bezieht.
aus dem bedürfnis, einen "freieren und innigeren zusammenhang" herzustellen, die funktion des einzelnen im ganzen nicht als resultat unmittelbar, sondern im entstehen, d. h. als auch anders möglich, das gleiche in geändertem zusammenhang mit veränderter funktion vorzuführen, wurde ein konzept struktureller und funktionaler verknüpfung erstellt, das sich nicht in der zeit entfalten lässt.
jeder der 128 augenblicke repräsentiert einen von vier punkten in einem gedachten kontinuum zwischen den extremen dreier dimensionen: er besteht aus ausschließlich gleichen, vielen gleichen und wenig verschiedenen, wenig gleichen und vielen verschiedenen oder ausschließlich verschiedenen tonhöhen; aus langen, vielen langen und wenig kurzen, wenigen langen und vielen kurzen oder ausschließlich kurzen dauern; aus ausschließlich vielen, wenigen tonhöhen oder ausschließlich geräuschen. sie sind mit diesen eigenschaften nicht statisch, sondern haben zu- oder abnehmende tendenz. aus der kombination dieser wenigen eigenschaften miteinander ergeben sich 4 x 4 x 4 x 2 = 128 augenblicke, die, da sie zwar untereinander auf mannigfaltige weise teils eng teils weniger eng strukturell verknüpft sind, aber ein ordnungsprinzip repräsentieren, das sich im musikalischen zeitverlauf nicht darstellen läßt, sich als einander ausschließen wollende voneinander isolieren und sich zugleich - in einer traurigen freiheit - füreinander öffnen. sie sind in jeder beliebigen reihenfolge und anzahl zu spielen.
"die apriorität des individuellen über das ganze" (hölderlin)
dass der hörer weiß, wo er sich befindet, ohne zu wissen, wo er sich formal und in der zeit befindet - dass alles ebensogut anders sein könnte - könnte alle notwendig entstehenden text-kontext-hierarchien als "temporär" und "gradweise herrschend" (hölderlin) durchschaubar machen.
die wahrnehmung selektiert von gleichbleibenden einzelheiten in verschiedenen zusammenhängen verschiedene eigenschaften; ähnlichkeiten zwischen einzelnen augenblicken können zur identität verschmelzen, geringfügige unterschiede gewichtig werden, identisches ist nicht identisch.
erfüllter augenblick, treffender ausdruck, sinnzusammenhang sind als vom musikalischen sprachraum abhängige (also als soziale) glücksfälle nicht konstruierbar; darauf ist zu reagieren ohne weinseligkeit, ohne die atomisierung der einzelheiten mit lust an der selbstzerstörung noch zu rufen; aber auch ohne mit auftrumpfendem "dennoch" auf traditionelle kommunikationsmuster zurückzugreifen.
wie entgeht man der rolle des "aktiven konzeptiven ideologen", welcher die "ausbildung der illusion dieser klasse über sich selbst" zu seinem "hauptnahrungszweige" (marx) macht?
vielleicht ist eine politisch nicht ganz unrelevante musik ohne esoterische ballonmützen-ästhetik möglich: musik kann etwas von der wirklichkeit bewusst machen dadurch, dass sie die chiffren bewusst macht, nach denen die wirklichkeit dechiffriert wird.
wer die musik nur politisch versteht, versteht auch von politik nichts.
013
016
extension (1979/80)
for violin and piano
duration: 50'
premiere: venedig 1983
peermusic
extension (1979/80) for violin and piano was conceived as counter-model to a form of thinking which derives variations or subsidiary thoughts from a main idea; not only should all ideas (in the tradition of adorno) be equidistant from the central point, but every idea should be exposition and development simultaneously. this takes place as follows: the system of relationship establishes itself by expanding at once explosively in all directions at the same time. this suggests that everything is connected with everything else, even the most distant element. there is, however, no such thing as order for everything. the working theses was: a universal connection between the senses is only to be had at the price of its growth, like a chain reaction, and its own neutralization, as flight of sense. for this reason the piece is preceded by a motto by paul valéry: "thinking? that means losing the thread."
trans. diana loos/susan oswell
020
ἀπò δῶ (apo do) (1982)
(over here) for string quartet
duration: 12'
premiere: berlin 1983
peermusic
apo do was commissioned by the goethe-institute in athens and is dedicated to the leonardo quartet.
the title is taken from the poem "the last century before mankind" by jannis ritsos, written 1942 under the impression of the german occupation; without attempting a direct depiction of the terrors of war, it is permeated by the horror that is reflected in changed everyday life, in the damaged experience of the most familiar things, and well as in the meanings that the light of the different hours of the day and the weather assume for agonized consciousness: in the fallen down hands of a clock on a cathedral; in the mud that flows with melting snow from the mountains and swims along with torn flags, army medals, and bones; in the clattering of shutters, that "applaud the desert of solitude"; in the waiter who has fallen asleep, whose head has sunk upon the serving tray, and whom is taken by those who expect nothing other than terror to be a dead man-in paratactically ordered fragments of images that seem to be taken from the destroyed context of a history; in the traces in which murder has been left behind due to the power of interpreting, supplementing work that demands that same work of fantasy to read the unspeakable, at whose representation art refuses to work. without avoiding the experience of real suffering, the "demand to let suffering become eloquent" (adorno) and fleeing to powerless beauty, ritsos escapes presumptuousness – and with it kitsch, which cultivates the confusion of the beauty, greatness, or violence of its subject with its own.
finally, how a poem sees itself in relation to politics is thematized, a poem which operates so that, in the consciousness of its esotericism, it takes itself directly into public hostility as fragmented, as reduced, as unenunciated conversation, as a sign for co-conspirators: the poet constructs in the desert of war at a street intersection a wooden panel on which to be read is: "from here to the sun."
in the hope that my work could be understood as an homage to jannis ritsos, as the expression of respect for the past and current-day battle of the greeks against economic and cultural expropriation, i have sought compositional means through which the genre of the string quartet, itself a specific central-european bourgeois tradition, could take on another esotericism, namely the character of that which remains uninterpretable or of that suggestive sign which is destined for communal experience. in this greek rhythms—which are occasionally used, only to disappear just as quickly—or a carefully hidden quote from the workers song "brothers, to the sun and to freedom" (that originated from a russian prison and then accrued a rich tradition in germany) which supplements melodically words barred from the title ("to the sun") play a less significant role than does the attempt, analogous to that in ritsos’s poem, to in some way let fragments come together at the same time that isolates them from one another and, at the same time, produces the impression that they have been taken from a context only understand to the initiated. form then lets itself be reconstructed as the architecture and dramatic course of events, as a logically told story through the rearrangement of parts and their completion. simple, ongoing repetition may turn something enciphered into something remotely familiar, and may give to something otherwise devoid of significance the appearance of being "just as it should be" ["so und nicht anders"]; thus i have disavowed the original idea of increasing the hermeticism, so that something enciphered persists while its meaning withdraws with each repetition. the "da capo senza fine" (a instruction that that is found in several editions of chopin’s last mazurka) has become a "quasi da capo senza fine": the unchanging successions of fragments were composed in two versions. a third breaks off shortly after it begins. only while at work on the composition did i first remember that i had, in so doing, quoted the form of beckett’s "play" – provided one ignores that, with beckett, the repetitions are literal ones.
the piece is preceded by three mottos. a famous one from brecht, whose opposition of lyric poetry concerned with nature and political necessity has been falsified by the global destruction of nature – perhaps one will recollect, that if music ever should perish in a sea of credit and coca-cola, then a discussion about it would become a political one.
what times do we live in, when
a conversation about trees is nearly a crime,
because it implies staying silent about so many atrocities!"
the second,
"ein blatt, baumlos,/ for bertolt brecht", is the answer from paul celan:
"what times do we live in,
where a discussion
is almost a crime,
because it incorporates so much
that’s explicitly said?"
the third,
"a silence filled by trees"
comes from the poem "the blackened pot," which jannis ritsos composed in 1948/49 in a concentration camp for political prisoners on the island limnos, where he had been sent for his participation in the civil war on the side of a "free greece." The specific context is as follows:
"then the cell gets even narrower
and one must think of the light on the wheat fields
and of the bread on the tables of the poor
and of the mothers as they smile at the window –
so one can create enough room to stretch out one’s legs.
in these hours you press your hand on that of your comrade,
there emerges a silence filled by trees,
and the shared cigarette passes from one mouth to the next
like a flashlight poring through the forest – we find the artery
which leads to the heart of spring, and we smile.
we smile into ourselves. now we conceal it, this smile.
unlawful smiling – just as the sun became unlawful
unlawful also the truth. we conceal the smile,
just as we conceal the picture of the beloved in our pocket,
just as we conceal the idea of freedom in the darkest corner of our heart
all who are here, we have one heaven and the same smile.
maybe they will kill us tomorrow, but this laughter
and this heaven they cannot take away from us."
mathias spahlinger, trans. philipp blume & nicholas betson
021
adieu m'amour
hommage à guillaume dufay (1982/83)
(farwell, my love
homage to guillaume dufay)
for violin and violoncello
duration: 12'
premiere: berlin 1983
peermusic
possess: from the desire that equates the life of the other to itself; from a tradition that will perceive its distance painfully.
on extremely detuned strings, which in and of themselves already call for an especially sensitive control of the bow, are added a great quantity of unusual playing techniques (bowing above the left-hand fingers – multiphonics achieved by bowing on the nodes of the string –
sounding of a portion of the string through slight overpressure of the bow – an extended "fawsett" technique for harmonics, which calls for a precise and even motion of the bow at specific locations on the string, etc; playing techniques, in other words, which are immensely fickle), with the intention of bringing forward into the players’ consciousness that dialectical movement, suppressed through long practice and mastery of the conventional techniques, between a sensitive awareness of the acoustical-mechanical properties of the instruments on the one hand, and the active/reactive comportment of the performer: the capacity to let the foreign-familiar live by its own rules, and let it come into an "ever freer and more intimate unity" (hölderlin) with the interpretive will. isolated tones, due to the demands of immensely performative demands and the taxing sense of focus with which they need to be realized, draw all attention upon themselves, and release themselves with a gentle autonomy from their overarching context (dufay’s adieu m’amour), just as the true duty of love lies in forgetting one’s duty to apprehend generalities; they simultaneously make reference to fragmentation, division, and separation; are meant as a repudiation of a beloved tradition which we are unable to reach, one which pulls away from all forms of possessive embrace, and resists reconstruction.
mathias spahlinger, trans. philipp blume
adieu m’amour, adieu ma joye,
adieu le solas que j’avoye,
adieu ma leale mastresse!
le dire adieu tant fort me blesse,
qu’il me semble que morir doye.
de desplaisir forment lermoye.
il n’est reconfort que je voye,
quant vous esloigne, ma princesse.
adieu m’amour…
je prie a dieu qu’il me convoye,
et doint que briefment vous revoye,
mon bien, m’amour et ma deesse!
car advis m’est, de ce que laisse,
qu’apres ma paine joye aroye.
adieu m’amour, adieu ma joye,
adieu le solas que j’avoye,
adieu ma leale mastresse!
le dire adieu tant fort me blesse,
qu’il me semble que morir doye.
farewell my love, farewell my joy,
farewell the comfort which I confess,
farewell my loyal mistress!
saying farewell wounds me so badly
that it seems to me that I must die.
with sorrow I weep greatly
there is no comfort that I can see
when I leave you, my princess.
farewell my love …
i pray to God that he will go with me,
and grant that briefly I may see you again,
my sweet, my love and my goddess!
for it’s my view of what I’m leaving
that after my pain I shall have joy.
farewell my love, farewell my joy,
farewell the comfort which I confess,
farewell my loyal mistress!
saying farewell wounds me so badly
that it seems to me that I must die.
023
música impura (1983)
(impure music)
for soprano, guitar and percussion
duration: 6'
premiere: montepulciano 1985
peermusic
música impura represents an attempt to find a response, adequate to our times, to pablo neruda’s prose poem poèsie impure, which in turn represents a polemical stance against the notion of "poèsie pure." my intention was to ask the question anew, whether it was not possible to press music into the service of concrete expression without falling back upon the insights of the bourgeois avant-garde, namely that music inhabits some existence independent of specific meaning, such that its expression remains unspecific and can be freely manipulated.
the line "pobre por culpa de los ricos" ("poor on account of the rich"), from neruda’s españa en el corazòn ("spain in the heart") is, at first, permanently repeated, but not interpreted expressively. it instead is merely instrumentalized through the formation of analogies to the phonetic sounds; by acknowledging the impossibility of representing the spoken sentence entirely through musical sounds, the inability of music to speak directly, i hope to find expression for the inadequacy and powerlessness of musical expression, as sanctioned by the european art music tradition, in the face of concrete suffering.
mathias spahlinger, trans. philipp blume
030
vorschläge
konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten (1992)
(concepts for making (super)fluous the function of the composer)
duration: variable
premiere: berlin 1993
universal edition
vorüberlegungen
auf die vorschläge folgen die hauptnoten. besser noch, die unterscheidung zwischen haupt- und nebengedanken, rede, nachvollzug und gegenrede wäre allenthalber "temporär und gradweise" (hölderlin), mithin durchschaubar, austauschbar, aufhebbar.
diese konzepte möchten etwas beitragen zur verallgemeinerung des einstweilen einseitigen rechts, sich etwas einfallen zu lassen. bei deren ausarbeitung habe ich mich von einigen vorüberlegungen leiten lassen, die ich mitteilen will, um sie zur diskussion zu stellen und um offenzulegen, daß meine vorschläge keineswegs immer allen meinen eigenen forderungen genügen. damit ist zugleich die richtung angedeutet, in die ich mir vorstelle, daß gedanken dieser art weiterentwickelt werden könnten:
diejenigen spielregeln sind die besten (und am schwersten zu formulieren) die nach vorne offen sind, ihre reflexion erheischen oder voraussetzen, in denen ihre selbstaufhebung, ihre verflüssigung und verüberflüssigung angelegt ist. spielregeln für musik, seien sie vom komponisten als anregung vorgegeben oder aufgrund von oder ohne eine anregung gemeinsam entwickelt, sollten nicht am resultat orientiert sein, nichts haben von strikt zu befolgender verkehrsordnung, sondern in jedem augenblick ihrer ausführung zur disposition stehen. die regel soll beeinflußbar, veränderbar, ja abschaffbar sein und es kann, auch wenn ihre geltung erhalten bleibt, gegen sie verstoßen werden; es wird sich zeigen, daß ein gezielter regelverstoß mehr wahrheit ans licht bringt, als eine regel jemals haben kann. oder andere, nicht vorformulierte gesetzmäßigkeiten sollen durch proben- oder ad-hoc-entscheidungen überhaupt erst entstehen, wogegen, zum besseren des ganzen, wiederum einspruch, widerspruch möglich und erwünscht ist. was diese musik darstellt, ausdrückt, ist, bestimmen die ausführenden und zwar jeder von ihnen.
entscheidungen fordern sachverstand. sie wollen so abverlangt sein, daß sie auf jeder stufe der bildung möglich sind. praktiziert und geübt wird die künstlerische kompetenz vor der spezifisch musikalischen, die musikalische vor der instrumentalen oder der handwerklichen, die immer an ein relativ fixiertes regelwerk gebunden ist. nebenbei bemerkt soll die ästhetische entscheidungsfreiheit auch nicht durch gesellschafts-spielregeln zurückgepfiffen werden. es geht um musik. nur wo soziale prozesse nahezu unmittelbar klangliche sind, dürfen sie in den vordergrund treten.
pädagogik und didaktik haben in der regel lernziele. und es ist dem, der etwas weitergeben möchte, unendlich schwer, besserwisserei zu vermeiden. sie ist das gegenteil von ästhetischer erfahrung. ich habe versucht, nur solche konzepte aufzuschreiben, an deren realisierung ich selbst gerne mitarbeiten würde.
das alt-griechische wort schule heißt auch: muße, freie zeit, (philosophische und gelehrte) gespräche; und langsamkeit, verzug, müßiggang, saumseligkeit. hierin steckt das schwer zu ertragende privileg, von der sogenannten nützlichen arbeit freigestellt zu sein und die erfahrung, daß die lernenden, denkenden, musizierenden dem ziel am nächsten kommen, wenn sie es nicht vor augen haben.
absichtslosigkeit, wie sie die ausführung dieser konzepte braucht, ist mit passivität oder fatalismus nicht zu verwechseln; sie war schon immer eine künstlerische und denkerische tugend und sollte eine soziale sein. gegenwärtig scheinen die chancen nicht groß, daß in absehbarer zeit der wille jeder/s einzelnen, ihre/seine wünsche und träume richtig und wahr werden. ein selbstbeobachtendes, auch kritisches verhältnis zum eigenen willen, zu dem seinen und zu den seinen zu kommen, ohne sich durchzusetzen, will geübt sein. fangen wir ruhig damit an, obwohl und weil es vielleicht zu spät ist. wir werden sehen, wie hölderlin sagte, daß der freiere auch der innigere zusammenhang ist.
____________________
die vorschläge können in jeder beliebigen auswahl, reihenfolge und kombination, auch synchron, ausgeführt werden. einzelne konzepte können betsandteile von anderen sein oder andere beinhalten. insbesondere jede form der variantenbildung und weiterentwicklung ist erwünscht.
031
presentimientos
variationen für streichtrio (1992/93)
(variations for string trio)
duration: 30'
premiere: witten 1993
universal edition
"presentimientos" - um welche vorgefühle geht es hier? titel sind in mathias spahlingers komponieren stets mehr als katalogisierungshilfen oder assoziativ-emotionale etiketten. in spahlingers titeln ist der ideengehalt der komposition auf einen sprachlichen brennpunkt fokussiert - so konzentriert, dass noch die kleinste scheinbare nebensache (wie etwa der bindestrich in seinem klavierkonzert "inter-mezzo") wesentliches birgt.
analysiert man spahlingers titel, folgt man den beziehungsgeflechten, die sie eröffnen, so gelangt man unmittelbar zu den problemstellungen seines komponierens. so auch bei den "presentimientos", die den nur scheinbar lapidaren untertitel "variationen für streichtrio" führen. eine semantische schicht dieser titelgebung erhellt sich aus der widmung, ist doch spahlingers streichtrio dem musiktheoretiker heinz-klaus metzger zu seinem 66. geburtstag zugeeignet. von metzger seinerseits ist bekannt, dass er ein freund der werke francisco goyas ist, in denen er, der scharfsinnige analytiker gesellschaftlicher momente des ästhetischen, eine relevante möglichkeit politischer kunst erkannte. wenn man nun noch in betracht zieht, dass goyas berühmter zyklus "desastres de la guerra" mit dem blatt "presentimientos" ("vorgefühle") beginnt, werden die zusammenhänge klar. aber spahlinger hat den semantischen faden noch weiter gesponnen. denn "vorgefühle" ist auch das erste von arnold schönbergs fünf orchesterstücken op. 16 überschrieben, und so ist spahlingers trio zugleich eine hommage à schönberg (was wiederum umso passender ist, als heinz-klaus metzgers musikdenken entscheidendes seiner begegnung mit den schönberg-schülern max deutsch, rudolf kolisch und theodor w. adorno verdankt). doch nicht allein auf schönbergs op. 16 rekurriert spahlinger. enge bezüge gibt es in den "presentimientos" auch zu den schönbergschen orchestervariationen op. 31 und dem streichtrio op. 45 - bezüge, die im untertitel "variationen für streichtrio" chiffriert sind und ins zentrum des kompositionstechnischen zielen. denn in schönbergs op. 31 und 45 sieht spahlinger verschiedene realisierungen eines gemeinsamen prinzips: drei stimmen der partitur sind in zwei gruppen unterteilt, wobei eine stimme einen gegensatz zu den beiden übrigen artikuliert, die zwar ein paar bilden, aber in sich wiederum fein differenziert sind. es geht somit, so spahlinger, um den "höheren gegensatz zwischen zweien als paar und einem dritten". dieses in beiden schönberg-werken prominente denkmuster lässt sich in allen 33 abschnitten von spahlingers trio in heterogensten ausformungen nachweisen - wobei man statt "abschnitte" eher "fragmente" sagen sollte, ist doch das 27-minütige stück in überwiegend kurze segmente zersplittert, segmente, die sich material aus genannten schönberg-werken in unterschiedlichem transformationsgrad variierend aneignen, segmente, die isoliert komponiert und erst nachträglich zusammengefügt wurden – aber nicht zu einem "ganzen", denn einen "übergeordneten gesamteindruck", eine "entwicklung" gar wollte spahlinger eben nicht komponieren, sondern zu einer folge von momenten, die eben nicht auseinander folgen. auch in sich lassen die einzelnen segmente kaum entwicklung erkennen, sondern verkörpern verschiedene varianten von statik: sei's durch lang gehaltene klänge oder streichgeräusche, sei's durch wiederholung des immer gleichen (oder nahezu gleichen) oder durch "einfrieren" der tonhöhen auf fixierte tonvorräte. mit dieser anti-teleologischen ausrichtung folgen die "presentimientos" einem ästhetischen prinzip, das spahlinger in seinem darmstädter vortrag von 1988 so formulierte: "[...] alle bisherige musik war finalistisch und hat versucht, die zusammenhänge, die sie hergestellt hat, als möglichst zwingend darzustellen und die stellung der einzelheiten im ganzen sozusagen als diener an der form, als unverwechselbar und unaustauschbar darzustellen. dass aber alles einzelne den verschiedensten kategorien angehört und nicht nur denen, in die sie der komponist gesetzt hat, das ist aus einer musik zu lernen oder zu bewusstsein zu bringen, die nicht mehr schlüsse hat, auf die sie zielt. oder die nicht mehr der ideologie aufsitzt, dass es überhaupt schlüsse geben könne, und der klar ist, dass aus jeder lösung neue probleme hervorgehen. also keine kadenzen!"
um das prinzip der dissoziation, der autonomie und einander-fremdheit der einzelmomente noch zu verdeutlichen und nicht wiederum "formbildend" werden zu lassen, hat spahlinger in die "presentimientos" noch zwei tonband-einschübe einmontiert, die mit hölzernen knackgeräuschen und dem summen einer neonröhre "fremde welten" in die kaputte intimität des streichtrios einbringen. und auch die einzige längere zusammenhängende, geschlossene, scheinbar zielgerichtete passage des trios (ein "getrübtes unisono", das in rasend schnellen achtelketten beginnt), erweist sich letztlich als nur schein-teleologisch - und soll keinen "heilen" kern des trios bilden, sondern eigentlich nur durch ihre andersartigkeit noch deutlicher machen, wie ziellos alles jene andere um sie herum ist, das "richtungslos vor sich hindümpelt". wenn das tonband-knacken dabei keineswegs als "neutrales" klangmaterial wirkt, sondern wie das knacken in einem "gebäude, das bedrohlich ins wanken gerät", wenn spahlingers trio auch anderswo durch die extreme zerbrechlichkeit der verwendeten klänge, die ins äußerste getriebene dramaturgie langer fermaten und pausen stets gefährdet wirkt, so sind dies assoziationen, die erkennen lassen, dass spahlingers "vorgefühle" recht düstere sind und mit einer subjektiven befindlichkeit zu tun haben, die nicht losgelöst von den politischen ereignissen ihrer entstehungszeit zu sehen ist. das sind freilich aspekte, über die sich spahlinger, der kritiker plakativer polit-hymnen, höchst ungern äußern mag. stattdessen setzt er auf die subliminale wirkung des klingenden: "manchmal ahnt man dinge, die man nicht erkennt, und die wirken trotzdem".
peter niklas wilson
033
off (1993/2011)
for six snare drums
self-publishing
"off" für sechs kleine trommeln hat ein form-konzept nach art eines stadtplans. es wird, wenn es vollständig komponiert sein wird, etwa knapp zwei stunden aufführungsmaterial umfassen, das aber nie als ganzes gespielt werden soll. verschieden lange abschnitte von rhythmischer modulation, tempo- und zeitkomposition mit variablen anfängen und schlüssen oder auch ein- und aus- und umsteigestellen darin, werden untereinander nach bestimmten regeln kombinierbar sein. eine erste version wurde 1993 in zürich uraufgeführt. sie befasste sich vor allem auch mit dem phänomen des raumrhythmus: in der summe durchgehende achtelnoten, die erst durch die verteilung auf sechs musiker im raum wechselnde rhythmisch-metrische gestalten ausbilden.
auf anregung von christoph brunner habe ich nun (2011) das material auf ungefähr das doppelte (ca. 20') erweitert und zu einer kombinierten version verarbeitet.
takt, metrum rhythmus und tempo haben sich in der bisherigen, "tonalen" musik gegenseitig konstituiert. seit von Neuer musik mit recht gesprochen werden kannn, können diese eigenschaften, wie übrigens auch der nicht takt-metrisch gebundene 1:1-puls, getrennt voneinander auftreten. aus diesem themenkreis sind in dem material von 2011 hinzugekommen von allem drei musikalische denkmodelle: 1.) in der summe gleichbleibende rhythmische muster, die durch uminstrumentierung verändert werden oder sich zu verändern scheinen. 2.) der einfluss von artikulation (mit dem jazzbesen gewischt oder geschlagen) auf den metrischen sinn, den wir beim hören unterstellen. 3.) traditionelle, schulmäßige schlagfiguren (paradiddle in allen denkbaren kombinationen) und die, trotz perfekter gleichmäßigkeit darin wirksame "energetik" und körperartikulation.
033.01 version 1993
duration: 8'
premiere: zurich 1993
033.02 version 2011
duration: 26'
premiere: malleray-bévilard 2011
034
gegen unendlich (1995)
(to infinity)
for bass clarinet, trombone, violoncello and piano
duration: 17'
premiere: berlin 1995
peermusic
without a tonal frame of reference there is an endless number of tone pitches, of witch none is the same as any other: without a tempo there is an endless number of points in time, none synchronous.
the experience that quantification cannot be fathomed is the theme of the piece. in the first half, even tone pitches of witch the notes are identical, through the microtonal context, should be able to be heard simply as an approximation of infinity. the second wants, quasi in unison with both composed and uncomposable discrepancies, in (ametric) 1 to 1 pulse – also in respect to synchronism – to make plurality audible, must desist from system related identification.
mathias spahlinger, trans. joanna king
040
fugitive beauté (2006)
(fleeting beauty)
for oboe, alto flute and violin, bass clarinet, viola and violoncello
duration: 17'
premiere: witten 2006
peermusic
the title is from a poem "to one, who passed by" from charles baudelaire’s "the flowers of evil", a poem which is often quoted (also unconsciously), with a preference for the image "a flash.... then the night" or "suffering, the intoxicated" und "delight, that kills" or the closing lines "I would have loved you and you knew it!" – quotations, which run through cultural history like formulae for conspiracy, which evoke a quantitative leap, the birth of modernity through the spirit of expressive breaking of tabus. this piece is not autobiographical, is not dedicated to anyone and doesn’t dabble in apposite expression. it is much more a matter of raising to consciousness the lovely effects, the way they are created. large emotions, (not emotionalisms) are intensified through self observation. one can learn from baudelaire that what withdraws itself appears more beautiful and provokes longing. the piece could as easily have been called "competing correlations". but one of my concepts for improvisation is already called that (whereby simple rhythms should never be clear, to which tempo they belong, whether single beats are stressed or unstressed, whether rhythms are discrete, polymetric or meant as a sum); what’s more an entire group of works can be so titled, and even more generally, a method of composition and analysis. the sextet is split into solo (oboe) duo (alto flute and violin) and trio (bass clarinet, viola and violoncello), although the spatial separation is less significant than the temporal: the three groups of the ensemble almost always play in different, gradually changing tempi.
mathias spahlinger, trans. joanna king, john winbigler
043
konzepte und varianten
(concepts and variants)
self publishing
konzeptuelle musik kann in ihrer reinsten und extremsten form aus einer einzigen idee bestehen, erfunden in einer sekunde, niedergeschrieben in einer minute und aufgeführt in einer unendlichen dauer. "to be held for a long time" von la monte young und "poème symphonique für 100 metronome" von ligeti kommen diesem extrem nahe. der haken bei der sache ist nur: die idee muss von der art sein, dass sie einen beziehungsreichtum des erklingenden ermöglicht oder garantiert, sei es durch die entscheidungen der musiker oder automatisch und mechanisch (wie bei den 100 metronomen) der, unter beibehaltung der grundidee, durch eine ausgeschriebene partitur nicht übertroffen werden könnte. ist dies nicht der fall, muss das konzept in der ausführung näher bestimmt und in der dauer begrenzt werden.
alle konzeptuellen ideen sind miteinander verwandt - durch die idee des konzeptualismus. da sie offene formen hervorbringen, können alle, durch allmähliche veränderung, ineinander überführt werden.
043.01 ausgang (2010)
(exit)
for ensemble
duration: variable
premiere: berlin 2010
"ausgang" für ensemble beginnt mit einem endlos-kontinuum, einer schleife, die, in zwei phasen, aufwärts und abwärts, stufenlos immer wieder in ihren eigenen beginn mündet, um dann, nach ausführlichen einlassungen auf andere konzepte, einen ausgang zu finden.
043.02 rundweg (2010)
(round way)
for recorder, violin and violoncello
duration: variable
premiere: berlin 2010
from the series concepts and variants: in its purest and most extreme form, conceptual music can emerge from a single idea, come up with in a second, written down in a minute, and performed for an unending duration. “to be held for a long time” from la monte young and “poème symphonique for 100 metronomes” by ligeti come extremely close to doing this. but here’s the trick: the idea has to be of the sort that enables or guarantees – through the decisions of a musician, or automatically and mechanically (as in the 100 metronomes)—a wealth of sounding relations which, while retaining the basic idea through an written-out score, cannot be surpassed. if this is not the case, the concept must be more precisely determined in its execution and more delimited in its duration. all conceptual ideas are related to each other – through the idea of conceptualism. since they produce open forms, they can all be converted, through gradual transformation, into one another. “rundweg” for recorder, violin and cello run through, among other thing, the stations of klangfarbenmelodie (“sound-color-melody”), micro-intervals, upstairs/downstairs, and ends only seemingly with a reprise, namely one by the whole piece reveals itself overall as a loop, a circuitous path [rundweg].
mathias spahlinger, trans. seth brodsky
043.03 einräumung (2002)
3 simultan solos for violin, viola and violoncello
duration: at least 1'41
premiere: bremen 2003
043.04 pnw (2003)
for 8 violoncellos and 5 double basses
dauer: 0'31
044
entfernte ergänzung (2012)
for four (also three or two) guitars
duration: 17'
premiere: stuttgart 2013
self-publishing
man stelle sich einen prozess vor, der in so langsamen veränderungen vonstatten geht, dass über minuten alles erklingende ähnlich scheint. z. b. ein sehr langsames glissando mit einem gleitstahl oder trommelstock, der, als schräger barré-griff, über alle sechs seiten der gitarre geschoben wird. figuration, die auf einer solchen schiefen ebene der tonalen grundlage ausgeführt wird, ist nie ganz gleich, aber auch nie in höherem maße verschieden. erst wenn diese kontinuität unterbrochen und nach mehr oder weniger großen herausgeschnittenen entwicklungen fortgesetzt wird, scheint es etwas wesentlich verschiedenes zu geben. in diesem stück wird allerdings, was entfernt wurde, was den eindruck des kontrastes erzeugte, um den hörer über dieses verfahren nicht im unklaren zu lassen, an späterer stelle teilweise ergänzt.
die genannten prozesse verlaufen in jeder der beteiligten gitarren relativ eigenständig ab, weshalb es im ganzen stück keine zwingend vorgeschriebene synchronität gibt, keinen wirklich gleichzeitigen akkord. darum auch ist eine ausführung mit nur drei oder zwei spielern möglich, die dann zum teil material aus den nicht besetzten stimmen übernehmen können.
046
asamisimasa-zyklus
for ensemble asamisimasa:
clarinet, drums, guitar, piano, violoncello
self-publishing
the asamisimasa cycle is a collection of eleven pieces that can be played separately or in different combinations, or indeed in a fixed order as an evening-length program. every conceivable size of instrumentation appears, from solo to sextet, in the most varied instrumental combinations. in two pieces an ensemble member stands in the foreground with soloistic tasks.
the durations of the pieces range from 3 to 15 minutes.
046.01 difference négligeable (2018)
for guitar and violoncello
duration: 4'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
die tonumfänge der instrumente dieses duos sind sehr ähnlich; fast alle tonhöhen, die auf dem einen instrument möglich sind, sind es auf dem anderen auch. unterschiede der klangerzeugungsarten, der farben, der dynamischen verläufe und anderer eigenschaften, die außerhalb des traditionellen tonhöhen-satzes liegen, treten umso deutlicher hervor, bis aus jeder vernachlässigbaren abweichung ein unterschied ums ganze werden kann – die neue musik hat die fragwürdigkeit der prinzipiellen unterschiede zwischen gleich, ähnlich und verschieden bewusst gemacht.
046.02 faux faux faux bourdon (2016)
for bass clarinet solo with accompaniment (percussion, guitar, piano, violoncello)
duration: 12'
premiere: darmstadt 2016-08-12, asamisimasa
order in one respect creates disorder in every other.
probably one of the oldest, and certainly the simplest conceivable form of polyphony, is the drone, the accompaniment of a melody by the sustained tonic of the scale, often with the fifth and the octave added; the melody notes, depending on their positions in the scale, fluctuate between consonance and dissonance in relation to the drone. An approach that may strike us as tautological and superfluous, as the accompaniment simply shows the frame of reference of which the musician or listener must be aware anyway if they are to understand the melody notes in relation to the system of perception. under the conditions in which this musical practice came into being, then, things cannot have been as clear as they became in modern Europe after the reduction of available scales to major-minor tonality.
in a certain sense, fauxbourdon, the false (bass) drone, constitutes a reversal of this situation. here too, one organizing principle is rigorously followed while another – contrapuntal thinking, the independence of the different voices – is neglected for short or sometimes extended sections. the melody notes are underlaid with unchanging chords, usually comprising a fourth and a third. such crudities have kept their cheeky freshness (with abandonment and return to counterpoint, and later function harmony) over the centuries, extending beyond beethoven to gershwin.
these parallel first inversion chords are tonal, they provide major and minor thirds, perfect and false fourths, and affirm the scale.
faux fauxbourdon could mean an approach where, as with parallel chords, the chords are transposed literally, without consideration for pitches outside the scale; or which, going further, uses atonal chords in parallel.
in faux fauxbourdon the bass clarinet is (almost always) the soloist. it plays false melodies – false because they are not tonal and (though clearly rhythmic) are not tied to any meter. the other instruments over- or underlay the bass clarinet with non-tonal parallel chords. the principles on which these chords are based are constantly violated or replaced by others.
paul valéry was right: “deux dangers ne cessent de menace le monde; l’order et le désordre” (there are two dangers that do not cease to threaten the world; order and disorder).
mathias spahlinger (trans. wieland hoban)
046.03 flashback (mit rückschaufehlern) (2017)
trio for quarter-tone instruments:
two vibraphones, quarter-tones tuned against each other),
electric guitar (quarter-tone) and
piano plus keyboard (quarter-tones tuned against each other)
duration: 7'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
ein ohrwurm ist noch kein traumatisches symptom. aber manche stellen bei beethoven (der hier zitiert wird), nicht anders als von hegel oder hölderlin (alle drei waren 1789 19-jährig) erinnern dringlich an das anfänglich umstürzlerische potential des bürgertums. besonders, wo die widersprüche kulminieren und so festgehalten werden, dass sie erzittern: "explosante fixe". einer traditionspflege zum trotz, die abschleift, durch gebrauch zivilisiert und durch verharmlosende erinnerung zum kulturgut, zum besitz herabwürdigt.
046.04 un-umkehr (2019)
for clarinet, drums, guitar, piano and violoncello
duration: 3'
ua: berlin 2023-03-22, asamisimasa
unsere vorstellungen von umkehrung in der musik sind durch die schriftlichkeit bestimmt. unter A-B-A-form versteht man selbstverständlich die abfolge von teilen als einheiten, die aber, intern, in gleicher richtung gespielt werden; andernfalls müsste, ab der mitte von B, der rest des stückes rückwärts gelesen werden.
bei der (über jahrhunderte) kleinsten größenordnung, den tonhöhen, erwartet niemand, dass in original, krebs, umkehrung (von oben und unten der intervalle) und umkehrungskrebs mit der reihenfolge der tonhöhen auch deren ein- und ausschwingvorgänge gemeint sein könnten. ein rückwärts ablaufendes tonband macht klar, dass dieser "physikalisch getreuesten" umkehr in der zeit nicht die größte ähnlichkeit mit dem original und die höchste wiedererkennbarkeit zukommt.
so ist bis heute die entscheidung für umkehrungen in der musik in jeder hinsicht an deren ausdehnung in der zeit gebunden und die vermischung von größenordnungen bringt das erfreulichste und fruchtbarste durcheinander hervor.
046.05 doppelt und dreifach determiniert (2017)
for drum solo (5 tomtoms)
duration: 12'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
für unsere taditionellen vorstellungen von musikalischem zusammenhang ist wohl die zeitordnung die bestimmendste gewesen: die abfolge der klangereignisse, das vorher und nachher (von melos bis form und dramaturgie) und das zugleich, also das zeitmaß für takt, metrum und rhythmus, das für musiker und hörer verbindliche tempo, das synchronität von aufführung wie wahrnehmung für musiker und hörer reguliert.
mit der "geschichtlichen tat" der erfindung von atonalität sind alle voraussetzungen des systems musik in frage gestellt; gleich, ähnlich und verschieden ebenso, wie vorher/nachher beziehungsweise synchron.
drei anschläge definieren ein tempo. nicht nur, wenn sie als puls, in gleichen abständen oder dauern aufeinanderfolgen. auch anschläge mit einfachem rhythmus oder dauern z. b. im verhältnis 3:1:2 (der punktierte rhythmus) definieren zugleich takt, metrum, rhythmus.
wird ein solcher rhythmus (z. b. in drei stimmen) gleichzeitig in drei unterschiedlichen tempi oft wiederholt, und laufen diese drei tempi nicht lediglich nebeneinander her, sondern sind so aufeinander bezogen, dass immer wieder bis zu drei anschläge aus den unterschiedlichen tempoebenen zusammentreffen müssen, eben auch solche, die in ihrem jeweiligen tempo die dauern 1, 2 oder 3 besitzen, sodass sie aber nicht bloß quantitativ verschieden sondern wesentlich verschieden sind, denn sie sind im rhythmus 3+1+2 in ihrer stellung im metrum bestimmt, so kann man (mit hegel) sagen: "die denkende vernunft spitzt den abgestumpften unterschied des verschiedenen, die bloße mannigfaltigkeit der vorstellung, zum wesentlichen unterschiede, zum gegensatze zu."
046.06 double (2018)
for clarinet, drums, guitar, piano and violoncello
duration: 15'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
die bezeichnung double kam mir als kind kurios vor: die praxis, die ich aus der französischen klaviermusik des 17./18. jahrhunderts kannte, einen tanzsatz im 4/4-takt notengetreu am ende zu wiederholen, aber im 3/4-takt.
hier dagegen sind alle rhythmisch/metrischen verhältnisse (von doppelt und dreifach determiniert) völlig identisch. nur das tempo ist reduziert, um in der instrumentation größere freiheiten zu erlangen.
046.07 nachtstück mit sonne (2014)
(nocturne with sun)
for ten-string guitar solo with accompaniment (clarinet, percussion, piano, violoncello)
duration: 17'
premiere: oslo 2015-09-14, asamisimasa
the title [nocturne with sun] is not an allusion to the midnight sun.
in beckett’s plays we can recognize our experience of how, in modernity, tragedy and comedy are at times so close to each other as to be indistinguishable, and that the one can turn into the other. things are not quite so serious here. but there is a parallel in new music: when tonal models became questionable, so did the expressive topoi. with the title i wanted to prevent the impression that the relative compositional simplicity at the start of the piece signaled something like a character piece, dispensing with any contrasting or entirely unexpected elements.
my concern was to let the principle of separation between solo and accompaniment emerge only gradually from the possibilities of the 10-string guitar to take a path of its own, one which the “accompanying” instruments could not simply follow: unfolding the incredible multiplicity and sonic quality of harmonics possible on this instrument.
mathias spahlinger (trans. wieland hoban)
046.08 still/moving (2015)
for clarinet and violoncello
duration: 8'
premiere: oslo 2015-09-14, asamisimasa
what is the right shelf for a book on social psychology? the sociology shelf, or rather psychology? buridan’s ass famously starved to death between two haystacks, unable to decide on which side it should start feeding. perhaps the solution lies in the middle, in the sense that after one begins reading, it transpires that the book in question reflects on the thematizing categorial boundaries, determinately negates and sublates them.
competing assignments can be found everywhere in new music. atonality, the initial fall, is probably no more or less than a clever arrangement of notes which makes it impossible for the perception to assign them to a particular key.
it is easy to demonstrate an analogous phenomenon in the rhythmic-metric domain. two musicians alternate in playing a regular pulse with a constant dynamic level, duration and articulation; the slightest change in these properties influences the possible or impossible metric assignment. instead of deciding to follow the one or the other, a third type results: ametricism. it is not based on irregularity in time (stockhausen’s “noise rhythm”), but rather the determinate negation of certain metric conditions.
in traditional music, the progress of musical time was tied to the harmonic syntax, along with meter, arsis and thesis, as well as the distinction between harmonic and non-harmonic pitches. this can give the impression that in music which determinately negates meter in the manner hinted at, musical time moves undecided across the categorial divide – not forwards, however, but rather between stasis and movement.
mathias spahlinger (trans. wieland hoban)
046.09 don’t kill me, i am beautiful (2019)
for bass clarinet, small drum, piano and violoncello
duration: 4'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
046.10 nahe null (2019)
for clarinet, drums, guitar, piano and violoncello
duration: 12'
premiere: ultima oslo contemporary music festival 2022-09-23, asamisimasa
in traditioneller musik ist konventionell geregelt, was als gleich, ähnlich oder verschieden gilt; auch in stilen, in denen bei wiederholungen üppigere verzierungen üblich waren, wurde die grenze zur variation nie überschritten.
wenn konzepte von neuer musik auf permanenter wiederholung und minimaler veränderung (nahe null) basieren, kann diese mit jener verwechselt werden.
gelegentlich verstehen wir musik ganz anders, wenn wir nachträglich erfahren, von wem sie stammt – also: wer wohl was intendiert hat.
der "treffende ausdruck" und die personalstile sind schon lange eine fragwürdige kategorie.
046.11 k141 (2018)
for piano solo
duration: 5'
premiere: berlin 2023-03-22, asamisimasa
unsere vorstellung von virtuosität hat sich mit der romantik, dem klavierbau und den größeren konzertsälen radikal verändert. wer glaubt, dass die "große klaviertechnik" allein, an chopin und liszt geschult, immerhin ausreicht, scarlatti zu spielen, möge es versuchen.
046.n kuboå (2015)
for voice, clarinet, percussion, guitar, piano and violoncello
duration: 4'
in hunger von knut hamsun wird das problem thematisiert*), dass eine privatsprache, die nur ihr erfinder selbst versteht, ein widerspruch in sich wäre, dass aber umgekehrt, sprache, die nur bei dem verbleibt, was sich von selbst versteht, zur selbstreflexion nicht taugt, dass nur ein sprechen, das um worte ringt, bisher ungesagtes, undenkbares zur sprache bringen kann.
die sechs musiker spielen asynchron, handeln jeder in sechs abschnitten unterschiedlicher längen modelle von "sprachfindung" ab. wiederholungen, varianten, kombinatorik, permutation, sozusagen um dem material sinnverschiebung oder bedeutungswandel abzugewinnen, um einzukreisen, was die musik bedeuten könnte.
*) plötzlich knipse ich mehrere male mit den fingern und lache. zum teufel auch! - ha! ich bildete mir ein, ein neues wort gefunden zu haben. ich richtete mich im bett auf und sagte: das gibt es in der sprache noch nicht, ich habe es erfunden, kuboå.
ich selbst hatte das wort erfunden und war deshalb in meinem guten recht, es bedeuten zu lassen, was ich nur wollte.
knut hamsun, hunger, suhrkamp verlag 1965, s. 76f.